Die Angst vor dem Rückruf

Fehlerhafte Implantate können Herstellern Kopf und Kragen kosten. Müssen künstliche Hüft- und Kniegelenke zurück in die Werkstatt bedeutet das einen gravierenden Imageverlust für das Unternehmen, eine Zweitoperation für den Patienten und Schadensersatzansprüche. Ein gut verankertes Qualitätsmanagement entschärft das Rückholrisiko und bietet Sicherheit.

Als sich der 37-jährige Berliner Beamte bückt, um den Schuh anzuziehen, zerbricht sein künstliches Hüftgelenk. Für den Verwaltungswirt beginnt eine aufreibende Odyssee zwischen OP-Saal, Ärztekammer, Rechtsanwaltskanzlei und Herstellerfirma. War es ein Produktionsfehler, der den Steckadapter im oberen Prothesenteil brechen ließ, oder ein Einbaufehler der operierenden Ärzte? Die genaue Zahl der so genannten Bruchereignisse ist unbekannt. Medizinanwältin Annika Zumbansen aus der Berliner Kanzlei Heynemann kennt zahlreiche Beispiele bei denen Hüftendoprothesen oder Schulter- und Kniegelenke schon nach wenigen Jahren ihren Dienst versagen. Die genauen Bruchursachen sind meist unklar: „Bei der Qualitätssicherung gibt es eindeutig Defizite, das liegt vor allem an einem zu laschen Verfahren bei der Marktzulassung medizinischer Produkte“, sagt Zumbansen.

Statistisch gesehen zeigen die von der Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS) erhobenen Zahlen der Revisionsoperationen für Hüftendoprothesen keine auffallende Zunahme. „Die Ergebnisraten in Deutschland sind im internationalen Vergleich relativ gut“, bestätigt BQS-Projektleiter Oliver Boy. Nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie wurden im letzten Jahr in Deutschland etwa 390 000 künstliche Gelenke operativ neu eingesetzt und zirka 35 000 Wechseloperationen durchgeführt. Allerdings lassen sich daraus kaum Rückschlüsse auf die Qualität der eingesetzten Implantate ziehen. Denn es gibt kein bundesweites Endoprothesenregister, das alle Erstimplantationen und Wechseloperationen von künstlichen Gelenken wie zum Beispiel von Hüft- und Knieendoprothesen erfasst. Das BQS spricht schon lange von der Notwendigkeit eines Implantatregisters nach schwedischem oder Schweitzer Vorbild. Die Gesundheitskontrolleure des BQS-Instituts geben offen zu, dass sie deshalb nur „einen begrenzten Einblick in die Versorgungsqualität“ haben.

Schlampereien in der Fertigung oder Materialfehler können sich Implantathersteller indes nicht leisten. Rückholaktionen sind Gift für das Firmenimage und Schadensersatzansprüche kostspielig. Bei dem Konusadapter des Hüftimplantats von Eska Implants kam es bereits Ende 2005 zu einer Rückholaktion nachdem die Zahl der Versagensfälle zunahm. Inzwischen wurde das Lübecker Unternehmen im Rahmen einer Insolvenz von der englischen Summit Medical Group übernommen und firmiert unter neuem Namen als Eska Orthodynamics. Die frühere Sulzer Medica musste vor zehn Jahren 25 000 künstliche Hüftgelenke in den USA zurückrufen. Beim Herstellprozess seien durch ein fehlerhaftes Reinigungsverfahren nicht alle Mineralölrückstände in den Gelenkpfannen entfernt worden, gab das Unternehmen bekannt. Heute gehört das Schweizer Unternehmen zum US-amerikanischen Medtech-Konzern Zimmer.

Folgenlos bleiben Komplikationen mit orthopädischen Produkten in der Regel nie. Firmen wie Stryker, aap Implantat, Falcon, Zimmer, Walter Link oder B.Braun Aesculap sind sofort zur Stelle, wenn es Hinweise auf materialbedingte Versagensfälle bei künstlichen Gelenken gibt. Orthopädie-Hersteller Zimmer beispielsweise unterhält eine eigene Abteilung Quality Management, die das interne und externe Audit von Lieferanten organisiert und auch den Bereich Dokumentation und Reklamationen für die zahlreichen Medizinprodukten aus unterschiedlichen Risikoklassen betreut. „Wenn es Anzeichen möglicher Probleme gibt, müssen wir diese sofort auch an die Behörden melden“, sagt Ulf Lempfert, Associate Director Qualitätsmanagement für Europa.

In Deutschland sind Qualitätssicherungsverfahren seitens der Herstellerfirmen bereits seit langem etabliert. Orthopäden rechnen bei Endoprothesen in der Regel mit einer Standzeit von 15 bis 20 Jahren. Um solche Vorgaben erfüllen zu können, benötigen Firmen ein gut funktionierendes Qualitätsmanagement. Bei Zimmer müssen die Prozesse die für Medizinprodukte gültige Norm DIN EN ISO 13485 erfüllen. Jedes Implantate-Design, die eingesetzte Werkstofftechnologie und das Herstellungsverfahren unterliegen nach eigenen Angaben einem gründlichen Qualitätscheck. Bei Hüftschäften folgt beispielsweise nach dem Schmieden der Rohlinge im Werk für Umformtechnik für jedes Modell und jede Größe ein individueller computergesteuerter Maschinenschliff mit speziellen Schleifscheiben. Ränder und Übergänge werden per Hand nachgeschliffen, bevor die Schäfte poliert werden. Für filigrane oder komplexe Prothesen, die im Nachhinein nicht mehr bearbeitet werden, nutzt man einen eigenen Schmiedevorgang. Beim so genannten Isothermschmieden werden Werkstück und Werkzeug auf gleicher Temperatur gehalten, so dass sich die Formänderung des Werkstücks langsam und mit minimalen Fließspannungen vollzieht und ein homogenes Materialgefüge entsteht.

Auch der Prüfungsaufwand je Werkstück ist nicht unerheblich: Rohlinge werden in eine fluoreszierende Kontrollflüssigkeit getaucht, die selbst kleinste Risse im Material sichtbar macht. Messfühler im Prüfraum suchen nach Unregelmäßigkeiten und Materialresten auf den Oberflächen der Werkstücke. Die Reinigung der fertigen Implantatkomponenten findet in einem Lauge- und Säurebädern mit Hilfe von Ultraschall statt. Regelmäßig werden Teile entnommen und im Labor auf organische und mikrobiologische Rückstände untersucht. Um Verunreinigungen auszuschließen, verpacken und etikettieren speziell ausgebildete Mitarbeiter die Prothesenteile im Reinraum, der mittels Partikelzähler und regelmäßigen Oberflächen- und Luftanalysen überwacht wird. Zuletzt wandern die verpackten und etikettierten Implantate in eine Sterilisationskammer, in der Gamma-Strahlung oder Ethylenoxidgas letzte Keimansiedlungen abtöten.

Der steigende Wettbewerb, vor allem durch Billiganbietern aus Fernost, sowie der wachsende Kostendruck macht auch qualitätsbewussten Firmen zu schaffen. Jede Änderung am Implantatdesign und an den Werstoffen von Prothetiksystemen oder Einzelteilen hat Auswirkung auf die Fertigung und Qualitätssicherung. Für zukunftsorientierte Hersteller sind dabei innovative Fertigungstechniken hoch willkommen, vor allem wenn die Werkzeugkosten sinken und die Produktivität steigt.

 

Kosteneinsparungen und Produktivitätssteigerung verspricht Sandvik Coromant mit einem neuen Konzept für das produktive Drehen von Hüftgelenken und Implantaten. Die Bearbeitung von Kobalt-Chrom- und Titan-Implantaten mit runden Wendeschneidplatten senken nach Herstellerangaben die Werkzeugkosten gegenüber herkömmlichen Verfahren um ein Drittel. Bei einem Einstellwinkel unter 45 Grad verringern die runden Wendeschneidplatten den Kerbverschleiß deutlich und erhöhen damit die Werkstückqualität. Wenn eine runde Wendeschneidplatte mit einer Schnitttiefe verwendet wird, die deutlich unter der des Eckenradius liegt, wird die Spandicke reduziert und die Schneidkantenlänge erhöht. Im Werkzeug entstehen niedrigere Temperaturen, so dass ein höherer Vorschub und Schnittgeschwindigkeiten erzielt werden. Die starke Schneidkante und der hohe Widerstand gegen übermäßigen Kerbverschleiß erhöht die Produktivität des Fertigungsprozesses.

 

Bei dem Endoprothesenhersteller Waldemar Link dominiert die Serienfertigung mit vielen Größenabstufungen. Das Hamburger Unternehmen hat sein Programm ausgebaut und fertigt künstlichen Gelenkersatz mit zementierbaren und zementfreien Implantaten für Hüfte, Knie, Schulter, Ellbogen und Hand, sowohl in der Primär- als auch der Revisionschirurgie. Ein eigenes Technik-Management kümmert sich um den Maschinenpark mit den 5-Achs-Fräszentren und den Spezialmaschinen. Das Risiko von Rückrufen kennt der Hamburger Spezialist aus eigener Erfahrung. Nicht zuletzt aus diesem Grund verfolgt Thomas Mehler, Leiter Qualitätsmanagement bei Link eine konsequente Linie: „Um die Qualitätssicherung stetig zu optimieren verfolgen wir ein Qualitätsmanagement, das den gesamten Lebenszyklus eines Medizinproduktes umspannt“, sagt Mehler. Im Pflichtenheft jedes Mitarbeiters stehen eine hohe Produktleistung und die Patientensicherheit an erster Stelle.

 

Neben einer Null-Fehler-Strategie setzen die Hamburger auf eine lückenlose Prozessüberwachung, die von einem zentralen Computer Aided Quality-System gesteuert wird. Das Informationssystem sammelt alle Kontroll- und Geometriedaten der hergestellten Prothesen aus der laufenden Fertigung und den Testläufen und führt sie zu einer Produkthistorie zusammen. Dieser langfristig gespeicherte Begleitschein für Komponenten oder Gesamtlösungen steht auch noch Jahre nach der Implantierung zur Verfügung und erleichtert nicht nur bei erneuter Operation die Planung sondern erfüllt auch die gesetzlich erforderliche Nachweispflicht. Besonders wichtig für Mehler: „Eine effektive Dokumentation der Compliance von Prozess und Produkt.“

 

Wichtige Hebel für eine bessere Qualitätskontrolle liegen in einer integrierten Fertigung. Siemens hat ein komplettes Technologiepaket für die gesamte Verfahrenskette der Implantatherstellung geschnürt. Dabei fertigen CNC-gesteuerte Werkzeugmaschinen Implantate nach Vorgaben aus einem bildgebenden Computertomographen (CT). Das Programm für die Maschinensteuerung durchläuft vor dem Fertigungsstart eine Simulation, die Fehler und mögliche Kollisionen während der Bearbeitung aufdeckt. Zudem dokumentiert der Steuerungsrechner jeden Arbeitsauftrag und speichert die Historie des gesamten Produktionsvorgangs.

 

Die Berliner aap legt den Fokus auf ein ausgefeiltes Informationsmanagement,

das die prozessorientierte Organisationsstruktur unterstützt. Tragende Elemente sind der integrierte Workflow sowie die datentechnische Einbindung der Konstruktions- und Qualitätsabteilungen. Das Softwarehaus Proalpha entwickelte Workflow-Automatismen, die jeden Vorgang im Unternehmen anhand einer hinterlegten Ablaufkette steuern. Der Vorteil: Jeder Speichervorgang und jede Änderung wird protokolliert, so dass sich die Entstehungsphasen jedes ausgelieferte Implantat rückverfolgen lassen.

Andreas Beuthner